Johanna

Februar 15, 2024 § 2 Kommentare

Auf liegt die Single „Chim Chim Cheree“ von Johanna von Koczian. Heute kam die Nachricht von ihrem Tode. Meine Mutter rief mich an – es gibt da nämlich eine zarte Verbindung in unsere Familie hinein – und sagte, sie sähe sie noch neben sich auf dem Sofa sitzen und reden, als wäre es gestern gewesen. Dabei war es Mitte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Stapenhorststraße in Bielefeld bei Onkel Hans, kurz bevor Johanna den Cousin meiner Mutter, seiner Zeit Schauspieldirektor, heiratete. Als angehende Schauspielerin stand sie damals am Beginn ihrer Karriere und erzählte, alles hinge daran, es auf die Titelseite eines der einschlägigen Blätter zu schaffen. So berichtet es meine Mutter, die bei dieser Gelegenheit einen aus ihrer Sicht leicht ernüchternden Einblick hinter die Kulissen des Showbiz werfen konnte. Die Ehe hielt nicht lange – weil es Johanna weiterdrängte, oder den Cousin meiner Mutter, der zu diesem Zeitpunkt noch einige Ehen vor sich hatte – ist innerhalb der Familie nicht überliefert.

Hallo Sie haben Ihr Kind vergessen

März 18, 2023 § 2 Kommentare

rief die Wäschereiangestellte meiner Tante hinterher, als diese, mich im Kinderwagen links stehen lassend Richtung häußlicher Kaffeetafel davoneilte. Unseren heutigen Helikoptereltern wäre so etwas nicht passiert. Aber meine übrigens gerade frisch verheiratete Tante war es ja auch nicht gewohnt, einen Kinderwagen durch die Stadt zu schieben. Solche und andere Geschichten werden erzählt beim gemeinsamen Betrachten alter Fotoalben, die wiederum auf den Tisch kommen, weil die aufzulösende Wohnung ihre Schätze preisgibt. Meine Mutter wurde als Kind von ihrer Oma zum Pfarrer geschickt, damit dieser die Erlaubnis gab zum Fleischessen an einem Karfreitag, der dummerweise mit einem runden Geburtstag der Oma zusammenfiel. Natürlich wurde auch der Pfarrer zum Geburtstagskarfreitagsbraten eingeladen, das Dienstmädchen bekam nichts vom Braten. Wenn später, nachdem ihr Lieblingssohn, seines Zeichens überaus beliebt im Ort und als SS-Mitglied zuständig für die Bewachung der Kriegsgefangenen (Emslandlager), dann doch strafversetzt an die Ostfront und dort gefallen – wenn also nach dem Krieg die sowieso ungeliebte Schwiegertochterwitwe Besuch bekam von einem aus dem Osten geflohenen jungen Mann, sagte die Oma regelmäßig empört da kommt er wieder, der Knecht. Während des Krieges, erinnert sich meine Mutter, kam eines Tages der Opa von seinen in der emsländischen Heidelandschaft versorgten Bienen aufgeregt nach Hause und sagte, da werden sie alle totgemacht (er meinte nicht die Bienen). Meine Tante wiederum weiß zu berichten, dass nach dem Krieg im britisch besetzten Münster an Weihnachten alle Kinder zum Schokoladetrinken eingeladen wurden und an einer langen Tafel platznehmen durften, während die Mütter nichts bekamen und stehen mussten. Diese Art der Umerziehung berührt. 

Von allen hier abgebildeten Verwandten leben noch zwei.

„Ich will Euch mal in der Gegend hier in Gedanken spazieren führen…“

August 23, 2016 § 2 Kommentare

Wenn wir als Kinder unsere Großeltern besuchten, stand immer ein Besuch bei Onkel Hans auf dem Programm. Er war der ältere Bruder meines Großvaters, damals als Zahnarzt bereits im Ruhestand. Mit Tante Lisel zusammen bewohnte er ein Stadthaus mit hübschem Garten. Man lebte auf größerem Fuß als bei unseren Großeltern. Für uns Kinder gab’s immer erstmal Eis, das in dem Garten, der nicht mit Nachbarn geteilt werden musste, verspeist wurde. Bei einem der Besuche breitete Onkel Hans eine Karte von Europa auf dem Tisch aus, fuhr mit dem Finger einmal quer darüber und zeigte, welche Länder er gesehen hatte. Was er dabei schilderte, machte tiefen Eindruck auf mich. Nicht, dass ich die Hintergründe seiner Erlebnisse verstanden hätte. Doch Tonfall und Inszenierung der Gesamtsituation ließen keinen Zweifel über die Bedeutsamkeit des Erlebten aufkommen. Dass es sich um Kriegeserlebnisse gehandelt hatte, wurde mir erst später bewusst. Ob vom Ersten oder Zweiten Weltkrieg die Rede gewesen war, blieb jedoch lange unklar. Als dann vor Jahren in unserer Familie ein dickes, in Leinen gebundenes Album auftauchte, löste sich das Rätsel.

 

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Neben vielen Zeitungsausschnitten, Bildern, Fotos, Skizzen und eingeklebten Telegrammen enthält dieses Album im Kern die mit der Schreibmaschine abgetippte Korrespondenz zwischen meinem Großonkel an der Front – zunächst Nordfrankreich, später Galizien – und der Familie in der „Heimat“. In diesen Briefen beschreibt er teils ausführlich den Alltag an der Front. Bevor er im Sommer 1915 an der Ostfront in Galizien in einem Gefecht mit Kosaken schwer verwundet wurde – die rückblickende Schilderung dieser Ereignisse in einem im Lazarett geschriebenen Brief ist allein das ganze Buch wert – nimmt er ab November 1914 am Stellungskrieg vor Reims teil. Dort, in dem kleinen Örtchen Courcy, standen wir gestern an genau  der Stelle, wo sich das Regiment in zweiter Linie hinter der Front „eingegraben“ hatte.

So beschreibt Hans die Gegend einem Brief vom 8. Januar 1915:

 

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Blümchenpflücken auf dem Gelände der geplünderten Fabrikbesitzervilla – das mutet angesichts des unfassbaren Kriegsgeschehens beinahe surreal an. Das qualvolle Ausharren in völlig durchnässter Kleidung bei tagelangem Regen im schlammig aufgeweichtem Graben, die Gefechte während der Patrouillengänge – all das wird andernorts ausführlich beschrieben. Anhand der genauen Ortsbeschreibung konnten wir uns einigermaßen orientieren, wenngleich natürlich absolut nichts im Gelände von dem Geschehen vor gut einhundert Jahren zeugt. Die Bahnlinie:

 

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Die Anhöhe von Brimont, Standort der Artillerie:

 

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Der Blick auf Reims von der Anhöhe aus:

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Die Stadt war im September 1914 für kurze Zeit von den Deutschen eingenommen worden, bevor sich die Armee in die Stellungen um Courcy zurück zog. In einer sinnlosen Aktion wurde dann die Kathedrale beschossen und schwer beschädigt. Davon schreibt Hans bezeichnenderweise nichts; erwähnt wird nur die aus Sicht der Deutschen „ruhmreiche“ Gefangennahme einer großen Anzahl französischer Soldaten. In einem späteren Brief beschreibt er den Blick auf die zu diesem Zeitpunkt doch wohl schon ziemlich beschädigte Stadt:

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Eine ja nun in der Tat irgendwie makabre Szene: im Angesicht der bereits halb zerstörten, ehemals (?) wunderschönen Stadt kommt Hans der ursprünglich auf Neapel gemünzte Ausspruch in den Sinn; den metaphorische Tod hier als ganz banale, unmittelbar drohende Realität vor Augen.

Anrührend aber dann doch, was er an anderer Stelle über die kurzfristige Verbrüderung deutscher und französischer Soldaten am Weihnachtstag 1914 von „Schützengraben zu Schützengraben“ hinweg beschreibt:

 

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Wir fuhren dann weiter nach Reims und besichtigten die Kathedrale. Der deutsche Künstler Imi Knoebel schuf  für die Kathedrale großartige Fenster. Ein Geschenk u. a. des deutschen Auswärtigen Amtes und des Künstlers als Geste der Wiedergutmachung für die Beschädigungen im Ersten Weltkrieg. Da hat sich doch einiges zum Guten gewendet seit Onkel Hans‘ Zeiten.

 

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P.S. Das komplette Album findet sich hier.

Onkel Hans im Ersten Weltkrieg

Mai 27, 2013 § Hinterlasse einen Kommentar

Besuche in meiner alten Heimat befördern regelmäßig Erstaunliches zutage. Neben Gesprächen mit Familienmitgliedern, die schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel haben als ich und folglich Geschichten aus einer anderen Zeit erzählen können, verbrachte ich manche Stunde mit der Lektüre eines dicken Bandes, den mein Großvater zusammen mit seinem älteren Bruder verfasst hatte:

Geschichte der Familie Friedrich Otto Gottlob Haugk im Weltkriege 1914 – 1918. Zusammengestellt und bearbeitet auf Grund der Familienbriefe, Aufzeichnungen, Erinnerungen und der Regimentsgeschichten des I. R. 78, R. I. R. 231, R. I. R. 440 und I. R. 164 durch Hans und Fritz Haugk. Mit vielen Karten, Plänen, Bildern und Faksimiles. Im Selbstverlag Bielefeld 1931

Ein einzigartiges Dokument, das mir nicht nur den Alltag der Familie meines Urgroßvaters anhand vieler – Gottseidank transkribierter! – Briefe nahe bringt, sondern die Erschütterungen einer Kriegsmaschinerie unglaublichen Ausmaßes im Erleben eines Soldaten und seiner Familie spürbar werden lässt. Dass eine ganze Nation begeistert in den Krieg zog – man hat es im Geschichtsunterricht gelernt. Aber warum? Wofür? Warum Gesundheit, Wohlergehen, das Leben – warum das alles so leichtfertig aufs Spiel setzen? An seinen im Schützengraben liegenden Sohn schreibt der Vater: „An Deinen mir so lieben Zeilen erkennen wir aber Deinen Charakter und wir sind stolz auf Deine Gesinnung. Ja über alles die Pflicht. Das Bewußtsein, diese zu tuen und getan zu haben stärkt unser Selbstgefühl und aus diesem heraus entsteht unser Urteil: Wahr und treu!“ Mit der Verwundung meines Großonkels Hans im Frühjahr 1915, kurz nach dessen 18. Geburtstag, und der daran sich anschließenden Korrespondenz bricht das Werk, das doch im Titel den Anspruch führte, die gesamte Zeit des Krieges zu schildern, ab. Symptomatisch dies: die Begeisterung ließ mit zunehmender Dauer des Krieges nach, daraus resultierende Selbstzweifel mündeten in Sprachlosigkeit. Und so dokumentiert der rückschauende Blick 1931 den „heroischen“ Beginn und quittiert das bittere Ende mit Stillschweigen. Und unglaublich aber wahr: kaum dreißig Jahre später wiederholt sich alles. An der Logistik von Feldpostkommunikation, die im Ersten Weltkrieg Mengen an Briefen als Zeitdokumente ermöglichte, wirkt mein Opa als Postinspektor im Zweiten Weltkrieg mit. Von der sich weiter nach Osten schiebenden Front schickt er eine Grußpostkarte nach der anderen an die Lieben zuhause. Nach der Kapitulation und während der Entnazifizierung werden die sorgfältig gesammelten Postkarten verbrannt und es beginnen angstvolle Jahre des Schweigens.

Aber noch etwas anderes beschäftigte mich während der Lektüre: Der Übergang von Erlebtem zu Geschildertem, von Eindruck zu Ausdruck, von „Drinsein“ zu „Drüberwegsein“, von Leben zu Literatur. In einem mehrseitigen Brief schildert Onkel Hans nach Wochen der schleppenden Genesung in einem Brief aus dem Lazarett die Umstände seiner Verwundung. Wie alle während eines zweitägigen Gefechts gegen die Russen nordöstlich von Lemberg zunehmend die Orientierung verlieren, jeder nur noch versucht durchzukommen, wie sich schließlich immer mehr in einem Dorf einfinden, den Feind schon in die Flucht geschlagen, und sicher glauben, und wie dann urplötzlich aus einem Wäldchen heranpreschende Kosaken angreifen. Und wie Hans, bevor ihn selbst eine Kugel am Bauch trifft, fünf von ihnen „herunterholt“. Der Vater lobt in seinem Antwortschreiben den sachlichen Ton, der alles Wesentliche zusammenfasse, ohne es an Anschaulichkeit und Lebendigkeit fehlen zu lassen. Bei aller zweifellos vorhandenen Fürsorge und der Sorge um das Wohlergehen des Sohnes behandelt er dessen Schilderung bereits wie ein Stück Literatur. 1976 starb Onkel Hans. Ich habe nur die allerbesten Erinnerungen an ihn.

Bielefeld

Mai 14, 2013 § Hinterlasse einen Kommentar

Bielefeld ist die Stadt meiner Großeltern. Zweimal im Jahr besuchten wir sie. Das Abenteuer begann mit der Taxifahrt vom Bahnhof in die Bossestraße. Ein unerhörter Luxus, der unmissverständlich von Wichtigem kündete. Vom Fenster der Parterrewohnung aus wurde unsere Ankunft sehnsüchtig erwartet. Dann die Rituale. Balanceakt auf der gemauerten Umfriedung des Vorgartens als Mutprobe und Inbesitznahme des Territoriums. Erkundungsgänge an der Hand des Großvaters. Gefährliche Überquerung der Stapenhorststraße, auf der der Verkehr Richtung Stadt brandete. An der Ecke war eine Kneipe, hinter deren Gardinenbehangenen Scheiben ich mir das geheimnisvolle, abenteuerliche Leben der Erwachsenen vorstellte. Wie gerne hätte ich einen Blick hineingeworfen. Weiter zum Bürgerpark Enten füttern mit Brotkrumen, die Oma uns in der Küche in ein Tütchen gepackt hatte. Zur Oetker-Halle, zu den Löwen, später zur Baustelle der Uni. Das war Opas Revier. Mit Oma ging’s Richtung Stadt zum Siegfriedplatz auf den Markt. Mit der ganzen Familie die Stapenhorststraße entlang zu Großonkel und -Tante, Eis essen im Garten. Drinnen beugte sich der Großonkel über Landkarten und erzählte vom Krieg. Sein Finger wanderte bunte Linien entlang. Heute weiß ich, dass vom Ersten Weltkrieg die Rede war und sein Finger Galizien suchte, wo er von Kosaken mit einem Bauchschuss niedergestreckt worden war. Meinen Großeltern gegenüber wohnte Familie N. Die Tochter in meinem Alter. Ich aber war schüchtern. Hinterm Haus spielten wir ein oder zweimal Federball. Mehr war nicht drin. Wenn die Arminia spielte, wehte der Wind den Torjubel von der nahe gelegenen Alm herüber. Ging Opa nicht mit uns spazieren, saß er an seinem uralten Schreibtisch und beklebte Alben, die er uns Kindern schenkte. Oft kam Besuch und alle drängten sich um den Wohnzimmertisch. Die Couch eignete sich hervorragend als Trampolin. Vorm Schlafengehen gruselte mich, denn es musste der große dunkle Flur durchquert werden. Im Badezimmer machte die Gastherme unheimliche Geräusche.
Kindheit. Die Kindheit eines Erwachsenen. Hier und Jetzt.

Heute kein Bild.

Von Conrad Felixmüller zu Heinz Lewerenz

April 12, 2013 § Ein Kommentar

Wie bereits erwähnt besuchte ich neulich die Felixmüller-Ausstellung in Chemnitz. Warum gerade dieser Maler? Nun, abgesehen davon, dass es dort wirklich schöne Bilder zu sehen gibt – z. B. das Portrait der Frau Feilgenhauer in atemberaubend apfelgrün samtigem Kleid, oder das Bild zweier Liebender im Park „Im Frühlingswind“ – hat es mit diesem Maler, der hinter den Großen wie Dix, Grosz usw. ein wenig zu kurz kommt, noch eine andere Bewandtnis. Sehr persönlich, zugegebenermaßen, und eine Geschichte halt. Die geht so: Felixmüller studierte in Dresden zusammen mit Böckstiegel, einem aus dem Westfälischen stammenden Maler. Beide waren befreundet, sogar verschwägert. Böckstiegel wiederum war zuvor an der Bielefelder Kunstgewerbeschule bei Godewols ausgebildet worden, u. a. zusammen mit einem gewissen Heinz Lewerenz. Dieser Kreis um Godewols fuhr zu Ausstellungen der damals revolutionären Französischen Maler und rezipierte intensiv die aktuellen Strömungen in der Kunst. Nach dem Ersten Weltkrieg etablierte sich in Bielefeld eine regelrechte Künstlergemeinschaft, eine progerssiv-bohemieske Szene mit reger kultureller Aktivität (ja, man unterschätze mir Bielefeld nicht!) In diesen Kreisen verkehrte auch eine Kusine meines Großvaters, Herta Keller, die sich von jenem Lewerenz nicht nur malen, sondern gleich auch schwängern ließ. Leider hatten es zu dieser Zeit uneheliche Kinder schwer, und meine Mutter erzählt, dieser Junge blieb immer ein wenig außen vor. Und es scheint, dass Lewerenz, der später nach Kassel ging, und dessen spätere Familie, von seiner „Jugendsünde“ nichts mehr wissen wollten. Seine Bilder aber wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Bielefeld bei Ausstellungen gezeigt. Und so kam es, dass den Sohn, der inzwischen nach England ausgewandert war, aus dem fernen Bielefeld eines Tages die aufgeregte Nachricht einer Verwandten erreichte: in der Kunsthalle, da hängt an prominenter Stelle ein Portrait deiner Mutter ! Das sind so Geschichten. ..

Und hier, ohne Bezug zur Geschichte, eine kleine Skizze, die ich neulich – es regnete mal wieder – in der U-Bahn ins Notizbüchlein kritzelte:

Mann in der U-Bahn

Wo bin ich?

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