Objet klecksé

Juli 13, 2016 § Hinterlasse einen Kommentar

Klecks Bolson

 

In der Regel unbeabsichtigt-unerwünschte Begleiterscheinung schreibender oder zeichnender Betätigung, ist der Klecks doch ein Ding, das es lohnt, näher betrachtet zu werden. Alles vermeintlich Ärgerliche am Rande eines Tuns bleibt nur solange qualvoll, wie wir es auf gar keinen Fall zulassen wollen. Die Hand Schweinsteigers, zielstrebig unterwegs Richtung Ball, zeitigt desaströse Folgen in einem wichtigen Fußballspiel, sichert jedoch Ruhm und Ehre in jedem Handballmatch. Im Halbfinalspiel der Deutschen gegen Frankreich war die Hand ein Klecks auf dem Tableau eines ansonsten gelungenen Fußballspiels. Betrachten wir nun den Klecks isoliert, lassen uns ganz auf sein Sosein ein, so stehen wir vor einem Faszinosum. Projektionsfläche. Schlüsselloch.

Lassen wir Peter Rühmkorf zu Wort kommen:

 

Denke nicht: die Wahrheit kleckst

einfach auf die Platte.

Denke nicht: das Leben wächst

sauber nach der Latte.

Blind auf einen Fleck gestiert,

wendet nichts zum Hellen.

ABER:

Flecken reflektiert,

schimmert wie Libellen.*

 

Wie aber stellt man Kleckse her? Gewöhnlich entstehen sie beiläufig. Man müsste also warten und sie bei Gelegenheit aufsammeln, Früchten gleich, die ein Wanderer unterwegs pflückt. Oder man hilft nach, erzwingt womöglich den Klecks. Aber ist er dann noch einer? Ihm eigen ist zunächst das Unabsichtlich-Beiläufige. Kleckse in Serie zu produzieren wäre dann so, als eröffnete man eine Produktionslinie zur Herstellung von Fehlern. Nun könnte man natürlich sagen, vom Ende her betrachtet ist es einerlei, wie das Ding in die Welt kam. Ob in der Absicht, es zu verhindern, oder als absichtliche Imitation des Unabsichtlichen. Ohnehin: betrachtet man den Klecks in seiner historischen Entwicklung, so hat das 19. Jahrhundert, spätestens mit Justinus Kerner, den Klecks ästhetisch aufgewertet und in das Stadium seiner Mündigkeit entlassen. Da scheidet sich das Klecksen nun vom Kleckern. Letzterem allein bleibt das Unabsichtliche wesensmäßig. Und so steht der serienmäßigen Fabrikation schillerndster, zwielichtigster, ominösester, abseitigster, krudester, exzellentester, miraculösester, dunkelster Kleckse nichts mehr im Weg. Wobei das Herstellen – besser: Herbeiführen – eines Kleckses nicht mit dem Malen eines Bildes vergleichbar ist. Unter mehr oder weniger fest umrissenen Bedingungen bringt man den Klecks zur Welt, ohne in sein Innerstes Gefüge auch nur ansatzweise gestaltend einzugreifen. Man dirigiert, ohne selber Hand ans Instrument zu legen. Ist der Klecks dann da, überrascht er stets aufs Neue:

Klecks Boreal

Klecks Delle

 

Klecks Barchan

 

Klecks Kroki

 

Klecks Lias

 

Klecks Schlotte

 

Klecks Scrub

 

Klecks Detritus

 

Klecks Halophyten

 

Klecks Kral

 

Klecks Koog

 

  • * Kleine Fleckenkunde. Zürich 1982

Klecksografie

Oktober 26, 2011 § Hinterlasse einen Kommentar

Mein derzeitiges Thema ist das Zeichnen und Malen auf Papier, vornehmlich abgelegtes, benutztes, gar verbrauchtes folglich bekleckstes, rückseitig bedrucktes usw. Mit dieser Beschäftigung stehe ich ästhetisch und moralisch auf festem Boden, denn ich schone unsere Ressourcen durch nachhaltige Nutzung von Verbrauchsmaterial und trotze dem Chaotisch-Zufälligem das Schöne ab. Und ich habe bedeutende Vorläufer. Justinus Kerner beispielsweise, Mediziner und Naturwissenschaftler, beschäftigte sich bereits im 19. Jahrhundert mit dem Thema „Klecksografie“. Das von ihm praktizierte Verfahren lässt sich zusammengefasst so beschreiben: auf eine Seite eines gefalzten Blatt Papiers wird Tinte aufgebracht, das Papier gefaltet und durch Pressen die Tinte verteilt. Über die so zufällig entstandene „Tintensau“ (prima!) wird so lange meditiert, bis sich eine Figur abzeichnet, die im Rahmen der „Postproduction“ mit Feder, Pinsel, Schere und Klebstoff präzisiert wird. Beigefügte Erläuterungen oder Gedichte bieten Orientierung. Faszinierend! Den Hinweis auf Kerner lieferte mir das sehr lesenswerte Buch von Friedrich Weltzien: Fleck – Das Bild der Selbsttätigkeit, das zu lesen ich leider die Zeit noch nicht fand (ich suchte eigens eine Bibliothek auf um zu schauen, ob ich dort ein wenig Zeit für das Buch fände…). Auch ich nutze den Klecks, aber doch anders, eher im Sinne eines Anmalens gegen Launen der Natur, gegen Eigengesetzlichkeiten starrer Materie, gegen das Chaos der Welt um uns herum; ein Chaos, dem unsere Sinne verzweifelt – und teilweise durchaus mit Erfolg – Form, Richtung und Struktur abzugewinnen bemüht sind. Setze ich also ein Gesicht auf bekleckstes Papier, so verfolge ich gebannt, ob es sich durchzusetzen vermag, ob es sich Tendenzen der Kleckse zu Nutzen macht, oder ob es ganz im Gegenteil einbricht, dem Chaos nicht standhält weil die Linien nicht tragen…

mehr Haut:

und noch mehr Haut:

Gelegentlich aber versuche ich es auch „trocken“:

und zum Schluss diesen jungen Herrn mit markanter rechter Hand:

Wo bin ich?

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