Oberlausitzsche Fotostrecke

Mai 15, 2024 § Hinterlasse einen Kommentar

Wenn ein Chor jubilierenderweise eine Reise unternimmt und familiär verbandelte Zaungäste mit von der Partie sein dürfen, ist glatt Kaiserwetter angesagt. So zeigt sich das Ziel der Reise, die Oberlausitz, von seiner besten Seite. Bautzen, Görlitz, Markersdorf, Schloss Rammenau, Cunewalde, Schloss Neschwitz. Basislager Bildungsgut Schmochtitz, ehemals Rittergut in gepflegter Parkanlage. In Görlitz entdeckte ich zufällig eine hübsche alte Bibliothek, aufgebaut von der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. Herr von Richthofen, Abteilungsleiter im Görlitzer Museum und für die Bibliothek zuständig, war so nett, mir trotz laufender Dreharbeiten Zutritt zu gewähren, zeigte sich jedoch empört über mein Bekenntniss, auf seine Bibliothek trotz beruflicher Vorbelastung meinerseits bloß zufällig gestoßen zu sein. Eine intellektuelle Kapazität mit genealogischem Auftrag hat’s aber auch nicht leicht in der Provinz, da knirscht es schon mal im emotionalen Gebälk. Mit meiner kleinen Sony RX-100 konnte ich hier und da etwas von der naturnahen Stimmung einfangen. Der Magie im Zusammenspiel von Flora, Wasser und Licht, teils vor weitem Horizont oder auch mal aus dem Bus heraus habe ich durch gelegentlich längere Belichtungszeiten nachgeholfen.

Kleine Fotostrecke mit den Schumanns und Anita Albus im Lichte neuer Erkenntnisse

April 29, 2024 § 2 Kommentare

In der Staatsbibliothek die Daguerreotypie betrachtet, die Robert und Clara Schumann als Paar zeigt. Aufgenommen in Hamburg 1850, vier Jahre vor Beginn von Roberts Martyrium in Endenich und Claras Wiederaufnahme ihrer regen Konzerttätigkeit.

Daguerreotypie von Johann Anton Völlner: Schumann in sich gekehrt, Clara freundlichen an ihm vorbei blickend, die rechte Hand auf der Tastatur, ihrer pianistischen Potenz gewiss. 

Die silberbedampfte Kupferplatte ist aufgrund der Reflexionen im Raum und des Alters schwer abzulichten, wird aber nun professionell digitalisiert. Dann lassen sich vielleicht noch mehr Details erkennen.

oben links: Sofastillleben mit Anita Albus, von der ich antiquarisch drei unglaublich spannende Bücher erwerben konnte:

  • Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei. Frankfurt am Main 1997.
  • Paradis und Paradox. Wunderwerke aus fünf Jahrhunderten. Die andere Bibliothek, hrsg. von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt 2002.
  • Maskulin – Feminin. Die Sexualität ist das Unnatürlichste von der Welt. München 1972. Darin: Anita Albus, Neue psychoanalytische Theorien der weiblichen Sexualität (und: sehr lesenswert und hochaktuell: Franz Böckelmann, Aspekte der Männlichkeit)

Albus ist ja eine ausgesprochene Modernitätsverächterin und schrieb bereits 1997 (!): „Glauben wir unser Zeitalter vor Irrtümern gefeit, weil alle Informationen auf Knopfdruck ins Haus schneien, erliegen wir einer doppelten Illusion. Zum einen können wir nicht mehr aufnehmen, als das kurze Leben erlaubt, zum anderen multiplizieren sich die Dummheiten durch Menge und Leichtigkeit der Rezeption ungleich schneller, als die im Info-Mischmasch verborgenen Denkfrüchte.“ Die Kunst der Künste, S. 271

As silence drowns the screams…

März 24, 2024 § 4 Kommentare

Confusion will be my epitaph.

As I crawl a cracked and broken path

If we make it we can all sit back 

and laugh.

But I fear tomorrow I‘ll be crying.

Yes I feel tomorrow I‘ll be crying.

crying.

crying.

Yes I feel tomorrow I‘ll be crying.

Yes I feel tomorrow I‘ll be crying.

Yes I feel tomorrow I‘ll be crying.

crying.

Mit einem Paukenschlag betrat King Crimson 1969 die Szene. Ich entdeckte die Band pennälernd ein paar Jahre später. Zu spät, als dass ich ihrem einzigen Auftritt in meiner Heimatstadt Darmstadt 1972 hätte beiwohnen können. Verblüffenderweise an genau jenem Ort, den ein Haufen Grünschnäbel, mich eingeschlossen, nur wenige Jahre später auch bespielte: das Foyer des Staatstheaters Darmstadt. Die Aufbruchsstimmung der Endsechziger, die Erwartung einer ganzen Generation, gerichtet auf eine endgültige Abschaffung vermurkster Politik, war vorbei. Dass die Flower-Power-Generation mit Tränen der Ernüchterung würden rechnen müssen, wusste King Crimson schon 1969. Der Aufbruch ist weg, geblieben ist eine Kunst, Musik vor allem, die es in sich hat.

The fate of all mankind I see

is in the hands of fools.

Alle Zitate: Peter Sinfield. King Crimson, Epitaph. In the court of the Crimson King. LP Dezember 1969.

Zeichnung: Tusche und Eitempera auf chinesischem Papier. Nach einer Plastik im Bode-Museum („Schreiende Frau“)

yuja wang

Februar 28, 2024 § 2 Kommentare

Die sensationelle Pianistin Yuja Wang – wobei sich das Attribut keineswegs auf ihre Kernkompetenz Pianistik allein beschränkt, vielmehr weit aus/einladend ins Optisch-Stilistisch-Allgemeinmenschliche hinein ausgreift – Yuja Wang also, die wir bereits vor Jahren einmal in der Philharmonie bewundern durften, erobert sich gerade ihren Platz auf meiner Staffelei. Das Werk progressiert noch, darf aber in seinem jetzigen Zustand bereits hier gezeigt werden. Unschwer zu erkennen, dass ihre Rolle zwischen Tastenbezwingerin und Stilikone oszilliert.

Acryl auf Pappe, einstweilen 100×100 cm.

Acryl auf Pappe in procreate mit Tastatur angereichert, digital.

Aktiv interpassive Strahlkräfte

Dezember 31, 2023 § Hinterlasse einen Kommentar

Mein Jahr geht zu Ende mit Clara Schumann und Thomas Kapielski. Letzterer in den 80gern einer der genialen Dilletanten, seither einer unserer klügsten Literaten und Künstler. Was im Kunstbetrieb und der akademischen Welt an eitler Selbstbepuderung und selbstreferenziellem Budenzauber reüssiert, nimmt er gelassen aufs Korn. Bescheiden, ironisch, witzig und auf den Punkt. Muss ihm erst mal eine(r) nachmachen. Aktuell sein Buch „Lebendmasse. Acht längere Unterredungen“. Über meinen Lieblingsort schreibt er da zum Beispiel: „und man soll üppige Bibliotheken besuchen, auch wenn man dort nur breit grinsend herumsitzt… Es müssen gute Bücher sein, eine schlechte Bibliothek verdirbt, eine gute bevördert, lektürisch wie atmosphärisch. Da walten aktiv interpassive Strahlkräfte.“

Clara Schumann wiederum steht im Fokus meiner Schumann/Endenich-Forschungen. Da bietet die vorliegende Schumann-Briefedition, enthaltend den kompletten Briefwechsel des Künstlerpaares mit allen KorrespondenzpartnerInnen, soweit überliefert, faszinierende Einblicke in das Leben dieser starken und hochsensiblen Frau. „… hätte man nicht ein Herz, das sich hinter der Vernunft krampfhaft zusammenzieht.“ Wie mit einer Lebensenttäuschung umgehen, gegen die der Verstand nicht opponieren kann?

2024 kann kommen. Guten Rutsch!

Thomas Kapielski, Lebendmasse. Berlin 2023, S. 38

Clara Schumann an Elisabeth von Herzogenberg 25.11.1886

Fantasie

Dezember 21, 2023 § Hinterlasse einen Kommentar

Peter Schmalfuss

November 6, 2023 § 4 Kommentare

„Ich weiß nicht, wie der Bursche heißt, der das Glück hat, von einer so schönen und hoheitsvollen Klavierlehrerin Unterricht auf dem Flügel zu genießen.“ Nun, ich war’s nicht, wenngleich sich von meinen Klavierstunden gleich die allererste ins Gedächtnis eingebrannt hat. Nicht, weil die Stunde, wie bei Robert Walser, dessen dritte der „Kleinen Geschichten“ mit dem einleitenden Satz beginnt, in einer gegenseitigen Umarmung von Schüler und Lehrerin auf dem Fußboden unterhalb des Flügels geendet hätte. Sondern weil die feine, ältere Dame, die mich in den ersten Jahren unterrichtete, mir als erstes eine wertvolle Kupferkugel in die Hand gab. Keinesfalls dürfe ich sie fallen lassen, sollte mir vielmehr anhand der Wölbung meiner Finger um die Kugel die richtige Fingerhaltung einprägen. Die Weihe des Moments legte den Grundstock für mein Klavierspiel und flößte mir dasjenige Maß an Ehrfurcht ein, durch das der Boden für allerlei angstvolle Erfahrungen bereitet war. Einige Jahre später, ich war unterdessen altersbedingt von der Jugendmusikschule auf’s Konservatorium gewechselt, legte mir mein neuer Klavierlehrer ein Fünfmarkstück auf den Handrücken. Würde es mir beim Spielen herunterrutschen und auf den Boden fallen, hätte ich verloren. Die robusteren unter seinen Schülern, von denen es einige gab, reiften unter dieser Maßnahme zu beachtlichen Instrumentalisten heran. Bei mir trat zu der ohnehin vorhandenen inneren Anspannung äußere Verkrampfung, der ich nur deshalb etwas abzugewinnen vermochte, weil sie sich schützend wie ein Panzer um meine verletzte Seele legte. Aber wieso erinnere ich mich überhaupt meines alten Klavierlehrers? Um Herauszufinden, welcher Pianist etwas von der der dritten Etüde E-Dur op. 10 von Chopin innewohnenden Spannung zwischen 2/4-Takt und gegenläufig gesetzter Melodieführung bemerkt hat, hörte ich auf Naxos, diesem sehr praktischen Klassig-Streaming-Dienst, verschiedene Einspielungen des Stücks. Und stieß so auf meinen Klavierlehrer, dessen Spiel mich nun doch berührte. Von den Jahren seines pädagogischen Wirkens war mir vor allem seine massige, um nicht zu sagen kugelrunde, mächtige Gestalt, die er vorzugsweise in quietschgrüngelbe Rollkragenpullis zu quetschen pflegte, in Erinnerung geblieben. Er war ein Naturtalent, hatte Meisterkurse bei Gieseking besucht und konzertierte eifrig in den entlegensten Gegenden der Welt, beklagte sich jedoch gebetsmühlenartig über das Schicksal, das ihm trotz wiederholter Versuche – für deren Durchführung er die älteren unter uns Schülern als Kartenabreißer einspannte -, durch Konzerte in Frankfurt den Ruf an die dortige Musikhochschule zu erlangen, die Demütigung einer minderen Wirkungsstätte, wie es das Konservatorium war, zumutete. Der Prophet gilt nichts im eigenen Land – mit dieser regelmäßig geäußerten Erkenntnis tröstete er sich dann über sein Schicksal hinweg. Mein horribles Lampenfieber glaubte er bekämpfen zu können durch immer neue Verpflichtungen zur Teilnahme an den regelmäßigen Schülervorspielen, wodurch alles noch viel schlimmer wurde. Höre ich ihn heute, mit dem Abstand von 50 Jahren, kommt ein wenig Wehmut auf. Die Angst vorm Versagen, intellektuell längst bewältigt, haust aber noch in den Fingern. Der Körper merkt sich alles.

Spontan fertigte ich eine kleine Skizze an. Das auf dem CD-Cover abgebildete Foto diente als Vorlage. Es zeigt ihn noch deutlich schlanker, als er dann wurde. Die Pose des selbstbewußten, aufstrebenden Pianisten, der nicht ohne Stolz seine Werkzeuge vorzeigt.

Kreisleriana

Oktober 22, 2023 § 2 Kommentare

Eusebius trat neulich leise zur Thüre herein…

Mit diesen Worten betritt 1831 der junge Musikschriftsteller Robert Schumann, den gleichaltrigen Frederick Chopin entdeckend, die öffentliche Bühne. 23 Jahre später schließt sich hinter ihm eine Thüre, die seine kometenhafte Laufbahn als romantischer Komponist in den Abgründen der Psychiatrie beenden wird. Ein Thema, das mich, nicht zum ersten Mal, seit Wochen aufwühlt. Schumanns Musik, insbesondere das geniale frühe Klavierwerk, zieht sich durch mein Leben, seit ich im Alter von zehn Jahren mit Klavierunterricht begann und den durch seinen Unfalltod freigewordenen Platz meines jüngeren Bruders einnahm.  Das „Wiegenliedchen“ aus den Albumblättern opus 124 war mein allererstes Lieblingsstück und begründete die lebenslange Liaison mit dem Romantiker. Einige Jahre später war es dann der kürzlich verstorbene Radu Lupu, der im Staatstheater Darmstadt den erkrankten Alfred Brendel ersetzte und mir das erste unvergessliche Konzerterlebnis schenkte. Seine Interpretation der Kreisleriana, zu der sich Schumann durch eine literarische Figur E. T. A Hoffmanns inspirieren ließ, erschloss mir eine neue Welt musikalischen Erlebens. Die fixe Idee, Musik zu studieren, um ganz in diesen Kosmos einzutauchen, führte beruflich ins Nirwana, gab mir aber ein Rüstzeug in die Hand, das mir seitdem die Welt der Noten aufschließt. 

Der Legende nach führten Clara und Robert Schumann über vierzehn Jahre hinweg eine glückliche Ehe als Künstler und Eltern von sieben Kindern, bevor sich bei Robert Anfang 1854 plötzlich Wahnvorstellungen bemerkbar machten, er sich das Leben nehmen wollte und schließlich um Schutz in einer Irrenanstalt bat. Trotz ärztlicher Bemühungen und liebevoll aufopfernden Einsatzes Claras sowie des engsten Freundeskreises verschlimmerte sich in der „Nervenheilanstalt“ Endenich bei Bonn Roberts Geisteskrankheit. Nach zweieinhalb Jahren erlöste ihn der Tod von seinem unheilbaren Leiden. Die an das Totenbett geeilte Clara vertraute ihrem Tagebuch an: „Ich sah ihn… Er lächelte mich an und schlang mit großer Anstrengung, denn er konnte seine Glieder nicht mehr regieren, seinen Arm um mich – nie werde ich das vergessen… Mein Robert, so mussten wir uns wiedersehen wie mühsam musste ich mir deine geliebten Züge hervorsuchen: welch ein Schmerzensanblick … Vor 2 1/2 Jahren von mir gerissen, ohne Abschied, was alles auf dem Herzen, und nun still zu seinen Füßen lag ich, wagte kaum zu atmen, und nur dann und wann ein Blick, zwar umnebelt, aber doch so unbeschreiblich mild, wurde mir. Alles um ihn her war mir so heilig… Er litt schrecklich… Ach, ich musste Gott bitten, ihn zu erlösen, weil ich ihn ja so lieb hatte…“ 

Der kürzlich verstorbene, erfahrene Psychiater Uwe Henrik Peters, eine Koryphäe auf seinem Gebiet und mehrere Jahre Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, wurde Ende der 80iger Jahre auf den letzten Brief aufmerksam, den Robert aus Endenich an Clara geschrieben hatte. Er wunderte sich, wie ein angeblich Geisteskranker einen solchen Brief verfassen konnte. Aus persönlichem Interesse forschte er über Jahre zu dem Thema und konterkarierte schließlich die weit verbreitete Schumann-Erzählung mit der These, Schumann habe sich in einem ungelösten Ehekonflikt befunden, möglicherweise halluziniert aufgrund eines Alkoholdelirs, sei daraufhin nach Endenich verbracht worden und dort gegen seinen ausdrücklichen Willen, obschon nicht geisteskrank, festgehalten worden, ehe er sich, die Ausweglosigkeit seiner Situation begreifend, zu Tode hungerte.  Zu diesem Thema veröffentlichte Peters mehrere Bücher, die in der Schumann-Forschung Empörung auslösten und deren Thesen unter anderem kürzlich (2019) von dem Arzt und Leiter des Münchener Ärzteorchesters, Reinhard Steinberg, vehement bestritten wurden. Mithilfe einer „psychiatrisch-semantischen Textanalyse der Krankenunterlagen“ und von Briefmaterial glaubte er, „die Unterstellung einer Abschiebung [Schumanns nach Endenich] ad absurdum führen zu können.“

In der Staatsbibliothek, die in erheblichem Umfang Manuskripte und Objekte Robert und Clara Schumanns besitzt, sah ich gestern die Originaldaguerreotypie des Ehepaares von  1850, vier Jahre vor Ausbruch der Krise. An dieser Stelle werde ich meine Lektüreerfahrungen und Erkenntnisse zum Thema in nächster Zeit mitteilen. Stay tuned.

Da strahlen zwei um die Wette…

September 11, 2023 § 2 Kommentare

…heut früh auf dem Weg in den Tiergarten. Kurz darauf fangen sie sich unter der Brücke und jubilieren im Lichtecho tausendfacher Brechung.

Die Algen derweil transformieren das Wasser in smaragdgrünen Marmor.

Unterdessen lese ich Neues zu Gustav Mahler, in dessen bewegtes Leben ich nach einer ersten enthusiastischen Phase vor vielen Jahren erneut eintauche und mich auf den Stand der Forschung bringe. „Frauen um Mahler“ heißt das gründlich recherchierte und klug die Materie strukturierende Buch von Franz Willnauer. Mit einem Nachwort von Eleonore Büning, die sich über Jahrzehnte (u. a.) als informierte Musikjournalistin der FAZ einen Namen gemacht hat. Und Mahlers stets jungen Sängerinnen zugewandtes Gebahren als Kapellmeister und Hofoperndirektor in die Nähe dessen rückt, was man heute unter #MeToo subsumiert. Meine durch ältere Mahler-Literatur geprängte Vorstellung Komponisten und Dirigenten als sensibel-nervös-intellektueller Philosoph und – bis zur Ehe mit Alma Schindler – platonisch schwärmender ewig Suchender bekam nun eine ungeahnte Erdung und Bodenhaftung. Immer wieder interessant, wie sehr doch Kunst- und Geistesmenschen in der allgemeinen Wahrnehmung mehr oder weniger einer Idealisierung anheim fallen.

Diese Arbeit in Acryl neulich hatte eine Fotografie Gustav Mahlers zum Ausgangspunkt, bevor sich am Ende der Gesichtsausdruck Sylvester Stallones so hartnäckig davorschob, dass ich das Bild nicht mehr betrachten kann, ohne an „Rocky“ zu denken:

In der Klanghöhle

August 29, 2023 § 2 Kommentare

Zwischendurch hebt er kurz den Kopf, blickt Richtung Saaldecke und spitzt den Mund, so als wollte er schnell Luft schnappen. Wie ein Fisch vorm erneuten Abtauchen in die Fluten. Klangfluten waren es bei Alexander Melnikov, besser noch: eine atemberaubend verzweigte Klanghöhle, gebaut dereinst vom Komponisten Rachmaninow und nun beleuchtet im umherirrenden Scheinwerferlicht vom Pianisten während seines Auftrittes beim diesjährigen Musikfest Berlin. Man versteht nicht so recht, wie zehn Finger eine sich in der Zeit entfaltende Architektonik stemmen können, wo ja nicht einfach jedem Finger ein Zimmer zuzuordnen wäre. Die Fluchten, Haupt- und Seitengewölbe mitsamt Treppen, Vorgarten und darüber gespanntem Nachthimmel hängen in der Schwebe an parrallel zu spinnenden Fäden, die alle in der Balance gehalten sein wollen. Und was für eine Entdeckung sensationeller Kompositionen des viel geschmähten Komponisten für mich, allen voran die „Etudes tableaux“. Und eine Wiederbegegnung mit dem russischen Pianisten, den ich anlässlich eines Events im Plattenladen Horenstein vor Jahren aus nächster Nähe erleben durfte. Hätte ich Melnikovs glänzenden Artikel in der FAZ vor einigen Tagen* nicht gelesen, wäre ich mit meinem Adornos unsäglichem Wirken geschuldeteten Scheuklappenblick weiter achtlos an Rachmaninow vorbeigegangen. So aber ergatterten wir nach spontanem Entschluss für das eigentlich ausverkaufte Konzert an der Abendkasse noch zwei Karten. Ich könnte nun endlos schwärmen von der Kraft, der Eleganz und Subtilität seines Spiels, von der traumwandlerischen Sicherheit im Erspüren noch der feinsten kompositorischen Details. Stattdessen sei erwähnt, was ich in dieser Vollendung noch nirgends hörte: die Verlängerung der Musik über den Schlußakkord hinaus. Die Brücke zwischen Klang und Stille. Das Spiegelbild der gekonnten Setzung eines Akkordes durch dynamisches Ausbalancieren der Töne in Tateinheit mit subtilster zeitlicher Staffelung im Anschlag – die Herausnahme des Schlussakkords durch mikroskopisches Lösen von den Tasten bei gleichzeitigem Einfaden des Dämpfungspedals. Melnikov  erwähnt in seinem Artikel – ohne ihn beim Namen zu nennen – Alfred Brendels Diktum von Rachmaninows Musik als Zeitverschwendung. Verschwenden wir unsere Zeit nicht länger an pseudointellektuelle Überheblichkeit und spitzen stattdessen unsere Ohren.

*Ein Superhirn voller Bitterkeit, FAZ vom 25.8.23

Musikfest Berlin: Alexander Melnikov II, Rachmaninow: Werke für Klavier solo

Bild: digitale Collage aus Eitempera- und Acrylbildern

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