Von Innovations- und anderen Zyklen. Eine kleine Brandrede

März 10, 2023 § 2 Kommentare

Innovationszyklus und Generationenzyklus driften auseinander. Ersterer beschleunigt sich, letzterer verlangsamt sich. Es ist zwar eine Binsenweisheit zu behaupten, früher reichte, was man einmal gelernt hat, für ein ganzes Leben, während man sich heute noch in fortgeschrittenem Alter weiterbilden soll. In den Köpfen der Menschen angekommen ist das aber mitnichten. Und wer sollte es ihnen auch übel nehmen? Wohnt doch der in Jahrtausenden geformten Physis unserer Natur ein Trägheitsmoment inne, das selbst munterste Gedankenspiele nicht auf Fingerschnipp hin auflösen können. Nehmen wir die Sprache. Wer in früheren Jahren am Diskurs gebildeter Menschen teilnehmen und ernst genommen werden wollte, musste sich dem Sprachdiktat eines Grüppchens beauftragter Sprachregler, geschützt unter dem Dach Duden-Redaktion beugen. Das war praktisch, denn so durfte nur mitreden, wer die bis in feinste Verästelungen hinein reglementierte Sprache perfekt beherrschte (in Schrift wie in Hochsprache). Dass sich aus dem ursprünglich auf das Wirken einer preußischen Altherrenrunde zurückgehende Normativ eines einheitlichen Schriftdeutschs zur Freude vieler Sprachbegabter und Literaten ästhetisch Funken schlagen ließen, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das komplizierte Regelwerk zuvörderst eine Hürde darstellte, die erstmal übersteigen musste, wer dazu gehören wollte. Und war das – bei dem ein oder der anderen oft mühsam Errungene – erstmal erreicht, musste der Besitzstand mit Zähnen und Klauen verteidigt werden. Nur so ist in meinen Augen vor Jahren der teils erbittert geführte Widerstand gegen die damalige Rechtschreibreform zu erklären. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter, und das Gleiche wiederholt sich in Sachen gendergerechte Sprache. Wer da freimütig bekennt, er sei zu alt für „son Scheiß“, genießt Artenschutz und meine volle Sympatie. Werden jedoch großkalibrige intellektuelle Geschütze aufgefahren, fehlt mir jegliches Verständnis. Das sogenannte generische Maskulin ist eines dieser Geschütze. Jeder, der mal ältere oder alte Texte gelesen hat weiß, dass in früheren Jahrhunderten selbstverständlich von Männern die Rede war, wenn maskuline Berufs- oder sonstige Bezeichnungen gewählt wurden. Galt es ausnahmsweise doch mal eine Frau zu „meinen“ in einer das öffentliche Leben und den öffentlichen Diskurs beherrschenden Männerwelt, so wurde ausdrücklich die weibliche Endung gewählt. Erst ganz allmälich und mit zunehmender Akzeptanz des Projekts Gleichberechtigung und dem Vordringen von Frauen in angestammte Männerdomänen bekam die bis dahin selbsterklärend funktionierende Sprache ein Legitimationsproblem. Dieses in den Griff zu bekommen ist fürwahr eine Mammutaufgabe, und selbstredend haftet vielen Versuchen, eine patriarchal geformte und dominierte Sprache unter die Fittiche humaner, emanzipatorischer Errungenschaften zu zwingen, etwas ungewollt Hilfloses, oft genug Lächerliches an. Schenkelklopfer und witzig klingende Sprachzoten sind hier wohlfeil zu haben. Warum aber wird das Projekt generell mit soviel Häme und Spott überzogen? Ich tippe auf das Phänomen der auseinanderdriftenden Zyklen. Gleiches gilt in Bezug auf das humane Projekt der Inklusion. Anstatt, wie in früheren Zeiten üblich, bestimmte (Minderheiten-)Gruppen auszugrenzen, leben wir Gottseidank in einer Zeit erhöhter Aufmerksamkeit für „die Anderen“. Da geht es schlicht um die Neuverteilung von Macht, Einfluss und Sichtbarkeit. Wer sich heute als „alter weißer Mann“ diskriminiert fühli, bekommt genau dies zu spüren. Betrachtet man innerhalb einer Gesellschaft die zu verteilende Macht als einen Kuchen, so müssen selbstverständlich die zu verteilenden Stücke kleiner werden. Wechseln also Frauen vom Katzen- an den „Herren“-Tisch und nehmen sich ihr Stück vom Kuchen, bleibt für die Männer weniger übrig und enger wird’s am Tisch auch, was nicht jedem schmeckt. Dazu kommen ja noch die Innovationen in Sachen Technik – hier genießen wir übrigens gerne stillschweigend was uns zupass kommt, und jammern umso lauter über Negativa, die an der ein oder anderen Stelle eben auch anfallen. Letztlich muss der Mensch natürlich jammern. Denn wäre er immer zufrieden gewesen, hätte er die Bäume nicht verlassen und sich nicht weiterentwickelt. Ich persönlich jedoch klinke mich hier aus. Evolution und Fortschritt kommen auch ohne mich zurecht.

Tagged:, , , , , , , ,

§ 2 Antworten auf Von Innovations- und anderen Zyklen. Eine kleine Brandrede

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Was ist das?

Du liest momentan Von Innovations- und anderen Zyklen. Eine kleine Brandrede auf Der Dilettant.

Meta

%d Bloggern gefällt das: